Eranos
Seit 1933 findet
beinahe jedes Jahr im Sommer in Ascona (CH) eine Tagung mit dem
Titel „ERANOS“ statt. Diese Tagung soll dazu dienen,
Themen fächerübergreifend zu diskutieren und in der entspannten
Atmosphäre des Lago Maggiore den Dialog zwischen Wissenschaftlern
verschiedenster Fachrichtungen zu fördern. Ursprünglich
gegründet durch die Holländerin Olga Froebe-Kapteyn, die
den Begriff ERANOS als Titel der Tagung einführte, sind seit
einiger Zeit Prof. Dr. Tilo Schabert und Dr. Matthias Riedl für
die Organisation verantwortlich. Die Reihe der Redner, die sich
bisher in Ascona einfanden ist ebenso prominent wie lang und reicht
von C.G. Jung über Eric Voegelin und Jan Assmann bis hin zu
Annemarie Schimmel. Immer werden die Redner gebeten, ihre Ansichten
zum gegebenen Oberthema in einem Vortrag dem ERANOS-Publikum zu
präsentieren und sich später dem Discussant und den Zuhörern
in einem Workshop zu stellen. Die Themenbreite von ERANOS reicht
von der Normen- und Wertediskussion (1974) bis zu religiösen
Eindrücken (Gott oder Götter 2005).
Die Stadt: Achse und Zentrum der Welt
Das diesjährige
Thema der Eranos-Tagung, an der ich erstmals auf Einladung von Dr.
Christoph Schumann teilnehmen durfte, beschäftigte sich mit
der Stadt als Achse und Zentrum der Welt. Die sechs Hauptvorträge
von Alessandro Scafi (London), Christoph Schumann (Erlangen), Steven
F. McGuire (Washington D.C.), Dieter Fuchs (Wien), Chloé
Ragazzoli (Paris) und Håkan Forsell (Stockholm) näherten
sich dem Thema unter anderem aus literatur-, kunst-, politik- und
islamwissenschaftlicher Sicht und schufen so eine Fülle von
Herangehensweisen an das Thema. Platons Phaidros, von Steven F.
McGuire als politischer Dialog verstanden, sollte zum Beispiel für
die mythologischen Ordnungen der Stadt herangezogen werden. Das
philosophische Leben in der Stadt sowie die Zusammenhänge der
mythologischen Ordnungen der Gemeinschaften und der Findung einer
„höheren“ Wahrheit wurden problematisiert und in
späteren Diskussionen lebhaft erörtert.
Besonderen Eindruck hinterließ auch der Vortrag von Alessandro
Scafi, der Bezug nehmend auf sein Buch „Mapping Paradies“
die Stadt als ein säkulares Paradies der Renaissance bezeichnete.
Mittelalterliche Versuche, das Paradies in die Kartographie einzufügen,
diesen „himmlischen“ Ort also auf Erden zu suchen, thematisierte
Alessandro Scafi und nahm sich bevorzugt den städtebaulichen
Utopien Filaretes an, die er in einen engen Bezug zu Thomas Morus
setzte. Das über allem stehende Bild des himmlischen Jerusalems
wirkte in der Renaissance prägend, veränderte sich jedoch
im Laufe der Zeit, als dasselbe mehr idealisiert in den städtebaulichen
Prozess eingebunden wurde, also die Realität vor der Utopie
den Vorrang bekam.
Eine andere Herangehensweise an das Thema Stadt zeigte Christoph
Schumann in seinem Vortrag auf, der sich auf die nahöstliche
Stadt bezog. Zur Klarstellung verwies er vorneweg auf die Schwierigkeit
des Begriffes der „islamischen“ Stadt, die in diesem
Sinne eher einer kolonialistischen Färbung der früheren
Orientalisten als der tatsächlichen Entstehungsgeschichte nahöstlicher
Städte Rechnung trägt. Das Hauptaugenmerk von Christoph
Schumann näherte sich dem Thema auf literarische Weise und
bezog sich auf nahöstliche Autoren. Besonders Nagib Machfus
und Orhan Pamuk wurden hier erwähnt. Der erste hat mit einer,
Thomas Manns „Buddenbrooks“ ähnlichen, dreibändigen
Geschichte (Kairoer Trilogie) einer Familie für großes
Aufsehen in der arabischen wie auch der europäischen Welt gesorgt,
weil Machfus den Verfall der Zeit einerseits im Zeitraffer der familiären
Geschichte und andererseits am Bild der Stadt und ihrer Menschen
überzeugend dargestellt hat. Ähnlich geht Orhan Pamuk
in seinem Werk „Schnee“ vor, der die vom Schneefall
eingeschlossene türkische Provinzstadt Kars beschreibt, in
der sich ein dreitägiger (Theater-) Militärputsch ereignet.
In diesen Geschehnissen sucht die Hauptperson Ka nach ihrer Identität,
verliert sich in der Stadt, die seiner „verwestlichten“
Gedankenwelt eine ursprüngliche Traditionalität entgegenhält
und wird letztlich als Stadtfremder in die Ereignisse aktiv einbezogen.
Die Stadt also immer zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Hauptfiguren,
die sich meist auf der Suche nach ihrer Identität in ein Bild
der Stadt verlieren, welches die Realität im Laufe der Zeit
verändert hat. Es scheint, dass diese Thematik gerade in nahöstlichen
Städten von großer und zukünftiger Bedeutung ist.
Die Vorgehensweise in James Joyce´s Ulysses, die Dieter Fuchs
beschrieb, ähnelt dieser Problematik. Dieter Fuchs sah die
gegebenen Parallelen zur griechischen Antike besonders in der Art
der Symposien (nach Platon) gegeben und zeigte, dass Joyce –
ähnlich wie Foucault – sich als kultureller Archäologe
verstand, der das vergessene Wissen der Stadt entdecken wollte.
Chloé Ragazzoli ging auf die Geschichte der beiden altägyptischen
Städte Memphis und Thebes ein und verdeutlichte den Zusammenhang
zwischen alter Kultur und Moderne. Ebenso ging Håkan Forsell
vor, der den pädagogischen Wert der Stadt und die Besonderheiten
der Erziehung in der Stadt am Beispiel des Berlins der 20er Jahre
vortrug. Er legte seinen Schwerpunkt auf die neu geschaffenen Probleme
in industriellen Städten, den veränderten Bezugspersonen
der Kinder und der „Verinselung“ reicher Familien.
Die Fächervielfalt dieser Tagung zeigte vor allem, dass Stadt
mehr ist als eine politisch zu kontrollierende Einheit, vielmehr
einen beinahe paradiesischen Zustand der Menschen darstellt und
eine eigene Dynamik abseits der planerischen Vorgaben entwickeln
kann.
(aus: Freiraum
11.06, Zeitung der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung)
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