Artikel von Christian Wolff zur Eranos-Tagung 2006

Eranos

Seit 1933 findet beinahe jedes Jahr im Sommer in Ascona (CH) eine Tagung mit dem Titel „ERANOS“ statt. Diese Tagung soll dazu dienen, Themen fächerübergreifend zu diskutieren und in der entspannten Atmosphäre des Lago Maggiore den Dialog zwischen Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen zu fördern. Ursprünglich gegründet durch die Holländerin Olga Froebe-Kapteyn, die den Begriff ERANOS als Titel der Tagung einführte, sind seit einiger Zeit Prof. Dr. Tilo Schabert und Dr. Matthias Riedl für die Organisation verantwortlich. Die Reihe der Redner, die sich bisher in Ascona einfanden ist ebenso prominent wie lang und reicht von C.G. Jung über Eric Voegelin und Jan Assmann bis hin zu Annemarie Schimmel. Immer werden die Redner gebeten, ihre Ansichten zum gegebenen Oberthema in einem Vortrag dem ERANOS-Publikum zu präsentieren und sich später dem Discussant und den Zuhörern in einem Workshop zu stellen. Die Themenbreite von ERANOS reicht von der Normen- und Wertediskussion (1974) bis zu religiösen Eindrücken (Gott oder Götter 2005).

Die Stadt: Achse und Zentrum der Welt

Das diesjährige Thema der Eranos-Tagung, an der ich erstmals auf Einladung von Dr. Christoph Schumann teilnehmen durfte, beschäftigte sich mit der Stadt als Achse und Zentrum der Welt. Die sechs Hauptvorträge von Alessandro Scafi (London), Christoph Schumann (Erlangen), Steven F. McGuire (Washington D.C.), Dieter Fuchs (Wien), Chloé Ragazzoli (Paris) und Håkan Forsell (Stockholm) näherten sich dem Thema unter anderem aus literatur-, kunst-, politik- und islamwissenschaftlicher Sicht und schufen so eine Fülle von Herangehensweisen an das Thema. Platons Phaidros, von Steven F. McGuire als politischer Dialog verstanden, sollte zum Beispiel für die mythologischen Ordnungen der Stadt herangezogen werden. Das philosophische Leben in der Stadt sowie die Zusammenhänge der mythologischen Ordnungen der Gemeinschaften und der Findung einer „höheren“ Wahrheit wurden problematisiert und in späteren Diskussionen lebhaft erörtert.

Besonderen Eindruck hinterließ auch der Vortrag von Alessandro Scafi, der Bezug nehmend auf sein Buch „Mapping Paradies“ die Stadt als ein säkulares Paradies der Renaissance bezeichnete. Mittelalterliche Versuche, das Paradies in die Kartographie einzufügen, diesen „himmlischen“ Ort also auf Erden zu suchen, thematisierte Alessandro Scafi und nahm sich bevorzugt den städtebaulichen Utopien Filaretes an, die er in einen engen Bezug zu Thomas Morus setzte. Das über allem stehende Bild des himmlischen Jerusalems wirkte in der Renaissance prägend, veränderte sich jedoch im Laufe der Zeit, als dasselbe mehr idealisiert in den städtebaulichen Prozess eingebunden wurde, also die Realität vor der Utopie den Vorrang bekam.

Eine andere Herangehensweise an das Thema Stadt zeigte Christoph Schumann in seinem Vortrag auf, der sich auf die nahöstliche Stadt bezog. Zur Klarstellung verwies er vorneweg auf die Schwierigkeit des Begriffes der „islamischen“ Stadt, die in diesem Sinne eher einer kolonialistischen Färbung der früheren Orientalisten als der tatsächlichen Entstehungsgeschichte nahöstlicher Städte Rechnung trägt. Das Hauptaugenmerk von Christoph Schumann näherte sich dem Thema auf literarische Weise und bezog sich auf nahöstliche Autoren. Besonders Nagib Machfus und Orhan Pamuk wurden hier erwähnt. Der erste hat mit einer, Thomas Manns „Buddenbrooks“ ähnlichen, dreibändigen Geschichte (Kairoer Trilogie) einer Familie für großes Aufsehen in der arabischen wie auch der europäischen Welt gesorgt, weil Machfus den Verfall der Zeit einerseits im Zeitraffer der familiären Geschichte und andererseits am Bild der Stadt und ihrer Menschen überzeugend dargestellt hat. Ähnlich geht Orhan Pamuk in seinem Werk „Schnee“ vor, der die vom Schneefall eingeschlossene türkische Provinzstadt Kars beschreibt, in der sich ein dreitägiger (Theater-) Militärputsch ereignet. In diesen Geschehnissen sucht die Hauptperson Ka nach ihrer Identität, verliert sich in der Stadt, die seiner „verwestlichten“ Gedankenwelt eine ursprüngliche Traditionalität entgegenhält und wird letztlich als Stadtfremder in die Ereignisse aktiv einbezogen. Die Stadt also immer zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Hauptfiguren, die sich meist auf der Suche nach ihrer Identität in ein Bild der Stadt verlieren, welches die Realität im Laufe der Zeit verändert hat. Es scheint, dass diese Thematik gerade in nahöstlichen Städten von großer und zukünftiger Bedeutung ist.

Die Vorgehensweise in James Joyce´s Ulysses, die Dieter Fuchs beschrieb, ähnelt dieser Problematik. Dieter Fuchs sah die gegebenen Parallelen zur griechischen Antike besonders in der Art der Symposien (nach Platon) gegeben und zeigte, dass Joyce – ähnlich wie Foucault – sich als kultureller Archäologe verstand, der das vergessene Wissen der Stadt entdecken wollte. Chloé Ragazzoli ging auf die Geschichte der beiden altägyptischen Städte Memphis und Thebes ein und verdeutlichte den Zusammenhang zwischen alter Kultur und Moderne. Ebenso ging Håkan Forsell vor, der den pädagogischen Wert der Stadt und die Besonderheiten der Erziehung in der Stadt am Beispiel des Berlins der 20er Jahre vortrug. Er legte seinen Schwerpunkt auf die neu geschaffenen Probleme in industriellen Städten, den veränderten Bezugspersonen der Kinder und der „Verinselung“ reicher Familien.

Die Fächervielfalt dieser Tagung zeigte vor allem, dass Stadt mehr ist als eine politisch zu kontrollierende Einheit, vielmehr einen beinahe paradiesischen Zustand der Menschen darstellt und eine eigene Dynamik abseits der planerischen Vorgaben entwickeln kann.

(aus: Freiraum 11.06, Zeitung der Stipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung)